Für mich und viele andere ist
das Hörbuch etwas recht Neues. Sie jedoch sind einer der Pioniere in diesem Bereich. Was
ist für Sie das besondere am Hörbuch? Reiner
Unglaub: Da gibt es vieles. Zum einen ist es einfach so, dass das Hörbuch eine
zusätzliche Dimension vermittelt von einem Buch, das sonst nur mit den Augen gelesen
wird. Ich gehe z. B. davon aus, dass erzählende Literatur am besten zu ihrem Recht kommt,
wenn sie laut wird. Wenn sie also zu Klang wird - ich würde sagen: Klangkörper. Das ist
fast so wie eine Partitur, die Sie im geschriebenen, im gedruckten Buch vor sich liegen
haben und Sie benutzen Ihr Instrument - Stimme und Sprechweise - dazu, um diese Partitur,
diese Noten, die da in Werten festliegen, lebendig zu machen und aus dem Metronom einen Rhythmus
werden zu lassen. Das tatsächlich Lebendige, wie es auch vielleicht, aber nicht
unbedingt, vom Autor innerlich empfunden wurde. Denn Autoren haben ja oft eine ganz andere
Vorstellung - ihre Werke verselbständigen sich ja auch. Aber meine Möglichkeit des
Nachvollzugs, d. h., das innerlich Gesprochene durch meine Subjektivität laut werden zu
lassen - das ist es.
Was bedeutet Ihnen das sprechen von Hörbüchern?
Reiner Unglaub: Freude und Spaß - aber
Spaß ist zu wenig. Ich habe, wenn ich an einem Buch arbeite, wenn ich also wirklich dabei
bin, immer das Gefühl, dass ich innerlich eine Stimme höre in mir, die für mich dann
der Horizont ist; die spricht es optimal für meine Begriffe. Und ich versuche, indem ich
das umsetze, was ich da innerlich höre, nur in Ansätzen natürlich immer, dem Horizont
entgegenzutreten, d. h. ich strecke mich nach diesem Horizont aus, werde ihn aber nie
erreichen. Und das ist eine ungeheure "sportliche Aktivität". Sie verlangt
ungeheure Konzentration, sie verlangt alles. Wenn ich dann aber manchmal 12 Stunden lang
gesprochen habe, dann kann ich - was ich sonst nicht sagen kann - behaupten, ich bin
positiv erschöpft. Und am besten klappt es, wenn ich nicht mehr nachdenken muss "wie
mach' ich das", sondern wenn das Buch mich trägt. Wenn dann die Sprache durch mich
durch geht und ich praktisch gar nicht mehr darüber nachdenke. Natürlich muss man
Vorarbeiten machen, klar, aber die dürfen nicht mehr spürbar werden. Es muss so sein, so
wünsche ich es mir, als wenn ich es im Moment erzähle oder berichte, beschreibe,
erkläre, dokumentiere oder kommentiere.
Sie sind künstlerischer Leiter der Bayerischen Blindenhörbücherei, Hörbuchsprecher
und wirken bei Produktionen des Bayerischen Rundfunks mit. Gibt es einen dieser drei
Bereiche, der Ihnen besonders am Herzen liegt?
Reiner Unglaub: Ja, ohne dem Verlag zu
schmeicheln, würde ich schon sagen: Wenn ich hier gute Sachen sprechen kann - das liegt
mir ganz besonders am Herzen. Natürlich auch die künstlerische Leitung insofern, als
dass ich an andere weitergeben möchte - ja - erst mal hören zu lernen. Das ist das Erste,
was ich immer möchte. Da kann noch so viel nicht stimmen - wie z. B. die Sprechtechnik.
Wenn die Kommunikation hergestellt werden kann, achtet der Hörer gar nicht mehr auf
Kleinigkeiten. Deshalb ist es für jeden Sprecher erst ungeheuer wichtig, sich selbst und
andere wirklich zu hören, zuzuhören. Das möchte ich vermitteln, und darüber kommen
dann auch die "Mittel". Aber die Mittel sekundär. Ich versuche, und das mache
ich sehr gerne mit Sprechern gemeinsam, also wie eine Art Hebamme, rauszufinden: Wo ist
deine Subjektivität, wo bist du? Wie setzt du dich in Verbindung mit diesem Text? Also
nicht irgend etwas machen, weil es ein Star gemacht hat und kopieren. Das machen viele und
sie müssen es vielleicht erst mal nachzuahmen, um etwas Eigenes zu finden. Aber wenn ich
merke, "Ah, jetzt wird er Westphal" oder was weiß ich wer, oder er anfängt zu
singen, das passiert mir selbst oft, dann hilft nur: Weg davon und suchen, wie würde ich,
aber ICH, als Subjektivität - die Wahrheit ist da wirklich subjektiv - das, was mir da
vorgegeben ist, in meiner Weise vermitteln? Wie der Pianist oder Violinist seine
Interpretation gibt.
Wie der Pianist oder Violinist seine Interpretation von
einem Werk gibt und der Zuhörer staunt: Was, das Werk hat auch diese Facette? Das gelingt
nur, weil die Persönlichkeit des Interpreten eben darauf so anspricht.
Ihr Repertoire konzentriert sich sehr auf die
klassische Literatur. Hat das auch etwas damit zu tun, dass Neuerscheinungen Ihnen nicht
so rasch zugänglich sind, da sie erst in Braille-Schrift übertragen werden müssen?
Reiner Unglaub: Ja, ich bin natürlich
zunächst mal einer, der die breit erzählende Form liebt, das ist in der älteren
Literatur oft sehr stark da. Nicht ausladend, aber das Epische, das langsam
durcherzählen. Was ich gerne möchte, ist auch Neues machen, ich habe auch schon einiges
Neues gemacht. Mit dem Umdruck in Braille - das geht jetzt zwar auch viel schneller, weil
man das über Computer machen kann - aber das kostet halt Geld. Das Umdrucken von
"Die Stadt der Blinden" - es sind 3 Ordner aus dem rd. 400 Seiten umfassenden
Buch entstanden - kostete schon ein paar hundert Euro. Doch ich bin nicht auf die
klassische Literatur festgelegt. Aber die klassische Literatur darf nicht verloren gehen,
man darf sie nicht liegen lassen, nur weil es ein dickes Buch ist oder weil manche Sätze
kompliziert sind. Die durchsichtig zu machen, also alles zum Hörbild zu machen, daran
liegt mir. Ich würde deshalb sagen, ich mache auch weiterhin sehr gerne klassische
Sachen, denn ich bin der Meinung, da muss etwas transportiert werden, soll etwas
transportiert werden, was nicht verlorengehen darf, was vor allem wieder mündlich werden
müsste. Aus seiner Verschriftung, aus seiner Erstarrung gelöst werden müsste. Auf der
anderen Seite möchte ich natürlich auch Neues machen und ich habe mich da auch in der
Blindenhörbücherei in dieser Richtung ausprobiert, jetzt auch beim John Updike, der ist
umgedruckt worden. Ich merke eben, dass ich doch in dieser Zeit lebe und diese
möchte ich auch durch meine Mittel ausdrücken.
Andere Hörbuchsprecher machen sich im Text Notizen und
Anmerkungen, die ihnen die Arbeit bei der Produktion erleichtern. Ihnen ist das so nicht
möglich. Wie bereiten Sie sich auf die Arbeit im Studio vor?
Reiner Unglaub: Das hängt einmal davon
ab, wie mir das Buch entgegenkommt. Wenn es also etwas sperriger ist, dann bereite ich
mich so vor, dass ich es einmal durchlese und dann bevor ich produziere, mir bestimmte
Dinge noch einmal anschaue, aber sonst nichts weiter mache, sondern es dann darauf
ankommen lasse. Natürlich, wenn es nötig ist, versuche ich auch ein bisschen
literarhistorische Vorarbeit zu leisten, aber in engem Rahmen. Man muss zwar einigermaßen
wissen, was wollte der Autor, was wollte er zu seiner Zeit, wenn er überhaupt was wollte
und welcher Literaturströmung gehört das Buch an, welche Motive sind da, die überall
wieder auftauchen, aber eigentlich soll es ja vergegenwärtigt werden. Und dann muss es
alles in die Gegenwart gehoben werden. Und das muss die Hauptsache bleiben. Und wenn ich
dann merke, das entspricht mir und meinen Möglichkeiten nicht, dann hoffe ich, dass ich
es in der Regel auch sein lasse. Das ist nicht immer passiert, aber ich denke meistens,
ja.
Es kommt hinzu, dass ich vom Studium her ein sehr
intensives Gedächtnis entwickeln musste. Wir hatten damals nicht die Medien, die man
heute hat, wie z. B. Computer. Wenn ich mir etwas vorlesen lassen musste, musste ich
mitstenografieren und musste halt wissen - gewusst wo - wenn etwas zu zitieren war. Ich
musste also Dinge sehr genau behalten. Und dieses Gedächtnis kommt mir natürlich auch
beim Buchlesen zugute. Manchmal mache ich es aber auch so wie bei "Die Stadt der
Blinden" von Saramago. Das war ein ziemlich schwieriges Unterfangen; da hat mir Herr
Eckardt sehr viel geholfen. Da wechseln z. B. innerhalb langer Sätze - er hat oft lange
Sätze - die Dialogpartner, ohne dass da z. B. Gänsefüßchen stehen. Sondern da ist ein
Komma und nach dem Komma spricht plötzlich der oder die Andere und für die Sehenden ist
das dadurch gekennzeichnet, dass nach dem Komma großgeschrieben wird. Für mich aber
nicht. Da bin ich oft ins Dunkel gegangen, wirklich wie ein Blinder. Manchmal waren da
vier oder fünf Wechsel im Dialog - die haben wir dann aufgeschlüsselt, wer das jetzt
spricht. Aber im Allgemeinen ging es und da vertraue ich einfach darauf, dass das
irgendwie wird. Also, das Vertrauen ist, glaube ich dann doch, wenn es auch am Ende steht,
das Wichtigste.
Ihre Hörbuchlesungen außerhalb der Produktionen für
die Blindenhörbücherei haben Sie bis auf wenige Ausnahmen, die Sie für den Rundfunk
gemacht haben, alle beim Verlag und Studio für Hörbuchproduktionen gemacht. Warum ist
das so und was ist für Sie an den Produktionen dieses Verlags das Besondere?
Reiner Unglaub: Also, das Erste war, dass
ich durch Herrn Eckardt (Anm. d. Red.: Damaliger Leiter der Deutschen
Blindenhörbücherei), sagen wir mal, entdeckt worden bin. Als ich in Marburg in der
Bücherei Sprecherziehung machte, da habe ich dann auch ab und zu im Studio gesessen. Ich
habe schon immer gern vorgelesen, habe aber nie gedacht, dass ich einmal Sprecher werden
könnte. So ein Traum war schon da, aber der war eher wie eine Ahnung. Ich habe dann auch
manchmal etwas probiert im Studio und dann kam Herr Eckardt, 1987 war das, auf mich zu und
hat eben gefragt: Er stellt sich vor, dass er Verlagsarbeit mit Hörbüchern oder mit der
Produktion von Hörbüchern machen möchte und da ich ja nun auch Theologie studiert hatte
wäre es doch eigentlich ganz gut - er wusste nur, dass ich einigermaßen lesen konnte -
wenn ich das neue Testament sprechen würde und ob ich das machen wolle. Auf diese Weise
bin ich überhaupt in diesen "Beruf" hineingekommen. Es war praktisch eine
Berufung durch den Leiter der Blindenhörbücherei - und das ist das Erste, das habe ich
nicht vergessen und werde es auch nie vergessen.
(Anm. d. Red.: Näheres hierzu auch im Verlagsportrait
im Hoerbuecher4um)
Das Zweite ist, dass wir, wenn ich hier spreche, sehr
intensiv zusammen arbeiten. Wenn ich vom Weg abkomme, dann kann mir der Regisseur, also
wieder Herr Eckardt, klar und deutlich, ohne Aggressionen, so dass ich auch bereit bin zu
verstehen, sagen: "Nee also, was machen Sie denn hier", "warum machen Sie
denn das" und "stellen Sie sich mal vor Sie könnten" oder "wäre es
auch so möglich" oder "Sie müssen bedenken, dass..." - bei jedem Buch
haben wir eine Strecke, wo es durch eine Enge geht, so einen engen Kanal, wie so ein
Geburtskanal und da müssen wir durch und er führt mich da. Wenn ich da durch bin, dann
muss er, glaube ich, nicht mehr sehr viel tun, dann geht es nur um die Schneiderei in der
Regel, aber dann läuft es auch. Dann kann ich frei laufen und fühle mich dabei wohl und
es ist halt auch ein sehr persönlich enges Verhältnis, was dadurch entstanden ist, das
trägt mich.
Und dazu kommt noch das Dritte: Der Verlag macht in den
meisten Fällen Hörbücher als Ganzes. Wenn ich etwas lese, dann meistens ungekürzt. Und
das gefällt mir, denn viele Bücher werden einfach nur auf Plot gekürzt, da bleibt nicht
mehr viel übrig, die Handlung zwar noch, aber der Gehalt kommt dann oft nicht mehr
rüber. Ich habe z. B. die "Deutschstunde" gelesen von Siegfried Lenz - die ist
als ungekürzte Lesung gemacht worden und sowas liegt mir sehr, gefällt mir. Ich fühle
mich dann einfach wohl, so kann man das vielleicht zusammenfassen.
Also, meine Faszination für diesen Verlag begründe
ich auch in der absolut stimmigen Gesamtheit des Produktes. So steht der Text mit dem
Sprecher in Einklang, aber auch die Aufmachung des Produkts ist etwas ganz Besonderes. So
auch bei den Lesungen aus der Bibel; die Cassetten sind umfasst von einer stabilen Box und
in Leinen eingebunden, was sie aus anderen Produktionen hervorhebt. Wie wichtig ist Ihnen
die an das Produkt angepasste Gestaltung?
Reiner Unglaub: Ist mir sehr wichtig.
Schon allein wenn ich es anfasse. Sie wissen ja - die Verpackungsindustrie weiß das ja
eigentlich auch - dass, ein Produkt besser verkauft wird, wenn es sich gut anfasst. Wenn
man es in die Hand nimmt und wiegt -, das ist doch was. Wenn Sie ein gutes Buch haben und
das haben Sie in der Hand, dann möchten Sie es gleich lesen. Es muss den Appetit anregen.
Das ist wie essen.
Das Auge isst auch mit.
Reiner Unglaub: Ja sicher - und die Hand.
Wenn ein Buch schon so unsinnlich verkauft wird, dann ist erst einmal eine Hürde da.
In der ehemaligen DDR haben Sie ein Studium der
Sprechwissenschaft und Germanistik gemacht sowie Sprecher ausgebildet beim Berliner
Rundfunk. Haben Sie aus dieser Zeit Erfahrungen, die durch die Wiedervereinigung für
viele Menschen verloren sind?
Reiner Unglaub: Da sind eigentlich
ganze Romane zu schreiben. Vieles davon lässt sich natürlich soziologisch oder ähnlich
erklären, warum es so war. Ich habe 40 Jahre in der DDR verbracht und das ist natürlich
ein Großteil meines Lebens bis jetzt. Ich will kurz zusammenfassen, was mir da so
einfällt:
Zunächst mal einen Eindruck, den ich hatte: Als ich kein
Geheimnisträger mehr war, konnte ich öfter zu Besuch in die BRD fahren. Und der Eindruck
war natürlich überwältigend. Wenn man die Mangelwirtschaft in der DDR kannte - deren
positive Seite ich später noch kurz streifen will - und dann hierher kam, das war schon
ein Unterschied. Schon auf dem Bahnhof in Hamburg die Gerüche, dieses Lockere, man merkte
keine Präsenz von Polizei oder ähnlichem, und es war irgendwie sehr frei: Die Leute
redeten frei und ich hatte das Gefühl "jetzt bist du wirklich auf einem anderen
Stern". Aber, als ich dann hierher kam, nicht nur zu Besuch, kam mir folgender
Vergleich: In der DDR ist es so, da kaufst du beim Bäcker Brötchen, die sind frisch und
einigermaßen knusprig. Innendrin ist was, du beißt rein, es riecht zwar nicht besonders
intensiv, aber du beißt rein und hast Inhalt. Hier gehst du zum Bäcker und das duftet
und duftet. Du beißt in die Semmel rein und da ist Luft drin. Das ist ein Unterschied,
den können sie jetzt als Symbol ausbauen, so viel sie mögen. Die Botschaft wird sehr oft
hier zur Verpackung, zur bloßen Verpackung, die Verpackung ist die Botschaft.
Wir haben z. B. weniger geistige Nahrung gehabt in der DDR.
Daher waren wir gezwungen, alles was wir in die Hand kriegten aus dem Westen oder wo auch
immer her zu lesen, intensiv zu lesen. Und das mussten wir weitergeben. Oftmals kamen wir
an die Bücher oder die Schallplatten nicht ran und waren also gehalten, mit Hunger zu
essen. Der geistige Hunger war äußerst groß. In dieser kaputten Situation, wo es
eigentlich nur ideologische Festlegungen gab und wo man in der Öffentlichkeit ohnehin
nicht frei reden konnte, waren wir gezwungen, uns innerlich einen Brunnen oder eine Quelle
zu schaffen, aus der wir trinken konnten. So sind ja beispielsweise auch sehr viele
Bücher , die einer aus dem Westen hatte, von Hand zu Hand gegangen und teilweise sogar
abgeschrieben worden, weil sie eben ungeheuer wichtig wurden. Also so nach der Analogie
"der Mensch lebt nicht vom Brot allein". Denn zu Essen und Trinken hatten wir ja
eigentlich genug. Es kann ja keiner sagen, dass wir Not gelitten hätten, wir hatten bloß
bestimmte Luxusgüter nicht.
Hier ist es mir nach einer Weile, als ich dann auch Geld
verdiente, so gegangen, dass mich die Bücher gar nicht mehr interessierten. Die liegen
überall herum, man kann sie jederzeit greifen und Sie haben so viele Möglichkeiten. Vor
lauter Möglichkeiten sagen Sie "och, das mache ich jetzt überhaupt nicht, das
interessiert mich jetzt nicht". Das ist ein Unterschied, den ich doch sehr deutlich
gemerkt habe: Der Hunger existiert nicht mehr oder er geht in entlegene Gebiete, bis hin
zu Gurus oder was weiß ich wohin. Dass man sagt, ich habe irgendeinen Hunger und den muss
ein Guru stillen.
Trotz des Überangebots hier, ist das etwas, was mir aus
der DDR geblieben ist: Ob das nun Nahrungsmittel sind, wie z. B. Erdbeeren, die Sie hier
das ganze Jahr bekommen, obwohl das nicht sein muss. Wir hatten das eben im späten
Frühjahr und im Sommer und das reicht auch. Ebenso bezieht sich dieses Beispiel auch auf
geistige Güter.
Das Zweite: In der DDR mussten wir immer abklopfen, wenn
wir mit jemandem sprachen, zwischen den Zeilen: "Kann ich hier mehr sagen? Kann ich
mich hier offen aussprechen?" Und da es keinen öffentlichen Diskurs gab - den gibt
es leider hier jetzt auch kaum noch, habe ich den Eindruck - mussten wir unseren eigenen
Diskurs finden. Wir wollten uns ja austauschen. Aus dem Westen hat uns mal ein Pfarrer
besucht, der sagte: "Bei Euch ist es ja unwahrscheinlich. Wir brauchen immer drei
Stunden, müssen Smalltalk machen, bis wir uns ein bisschen aneinander herangefühlt
haben, dann KANN es passieren, dass wir die Masken etwas fallen lassen. Bei Euch geht es
nach fünf Minuten um die Sinnfrage oder um die Grundfragen des Lebens."
Das war etwas, was mir natürlich hier sehr gefehlt hat.
Man brauchte sehr lange, um mit Menschen ins Gespräch zu kommen und musste sehr viel
lauwarme Luft hin- und herwenden, bis die normalen Floskeln abgetastet waren und man dann
vielleicht etwas tiefer kam. Ich bin jemand, der sehr schnell ins Tiefe oder Weite gehen
möchte. Und wenn ich dann so viel reden muss, um überhaupt ins Gespräch zu
kommen, über das, was mich fasziniert oder interessiert, dann kühlt es ab oder gibt gar
nichts mehr. D. h. also, die Gesprächskultur fand ich besser, immer vorausgesetzt, unter
denen, die sich wirklich was zu sagen hatten. Das waren nicht viele in der DDR,
vergleichsweise mit der Masse hier. Das hat jetzt keine Wertung, wenn ich das so sage, das
ist einfach so. Die Masse der Leute war eben einfach nur aufs Materielle orientiert, war
auch konsumorientiert wie hier, zusätzlich durchs West-Fernsehen, wenn sie dann ständig
sahen, was es da alles gibt. Manche haben sich ja dann nach der Wende völlig überkauft,
nur weil sie nachholen wollten. Das ist die zweite Sache, die bei uns anders war. Als ich
dann hierher kam, fühlte ich mich ziemlich erkältet.
Haben Sie durch den christlichen Glauben mit der
SED Probleme bekommen?
Reiner Unglaub: Ja, auch. Ich habe
ja auch Sprecher unterrichtet, ausgebildet und weitergebildet und habe natürlich mit
vielen Marxisten Kontakt gehabt, die nicht unbedingt parteigebunden waren. Da habe ich
tolle Leute kennengelernt und habe mit denen natürlich frei gesprochen, kindlich wie ich
war. Gesagt, was mir nicht gefällt und dass es dem Sozialismus nur nützlich sein könne,
wenn Kritik möglich wäre, usw.. Und einer dieser Leute hat mich mehrmals verpfiffen, das
habe ich aber erst später mitbekommen.
Dazu kam, es gab damals eine Solidaritätsmark (jeder gibt
eine bestimmte Summe vom Verdienst ab, und das sollte für Vietnam verwendet werden) - es
war die Zeit des Vietnamkriegs. Ich war natürlich auch gegen den Krieg in Vietnam, das
ist klar, aber ich habe immer gefragt, aus meiner Situation, meinem Verständnis heraus: Ich
möchte genau wissen, wie dieses Geld verwendet wird. Wird es für Waffen verwendet, für
Ausbildung von Soldaten? Und darauf hat man mir geantwortet: "Sie zweifeln wohl an
der Friedenspolitik der DDR?!" Und das ist mehrmals aufgetreten. Ich bin der einzige
in der Abteilung gewesen, der die Solimark nicht bezahlt hat. Ich habe dann zwar gesagt,
dass ich für Brot für die Welt und ähnliches gebe, da kommt es auch armen Ländern
zugute, wie z. B. Mosambique, aber das haben sie mir nicht abgenommen und da haben sie mir
dann eines Tages gesagt: "Sie sind Ihres Postens enthoben und Sie dürfen andere
Personen nicht mehr lehren, weil sie nur fachlich lehren und Sie nicht im Sinne des
Marxismus-Leninismus unterrichten."
D. h. also, mein Engagement in Kirchengemeinden war der
damals notwendige Hintergrund. Dadurch hatte ich natürlich auch ein bisschen
Unterstützung, weil kirchliche Stellen die einzigen immerhin relativ unabhängigigen
Stellen vom Staat waren, so dass man sich wenigstens dahinterstellen und sagen konnte, da
hat man noch einen Rückhalt. Also das hat schon eine Rolle gespielt. Wenn ich den
Rückhalt nicht gehabt hätte, weiß ich nicht. Aber ich bin sowieso jemand, der, wenn er
innerlich nicht mehr mitkann, irgendwann ausbricht. Der dann nicht mehr mitmacht und statt
rumzulügen, das Maul aufreißt, um das zu sagen, was sie nicht gern hören wollen.
Insofern gab es Probleme durch meine, ja die Marxisten
hätten gesagt, durch meine ideologische Einstellung. Die Ideologie war der christliche
Glaube.
Von Ihren Hörbuch-Produktionen, die Sie
gesprochen haben, an welcher liegt Ihnen da am meisten?
Reiner Unglaub: Das ist eine gute
Frage. Es ist sehr schwierig, sie zu beantworten. In der Regel ist das Buch mir am
wichtigsten, was ich gerade mache. Aber es gibt hier im Verlag z. B. die
"Deutschstunde", die habe ich sehr gerne gemacht und das, was ich von Stefan
Zweig gemacht habe, da gibt es ja einige Sachen, da möchte ich auch gerne immer wieder
was tun. Ja, das sind die - wie sagt man heute - Highlights.
Überraschend, dass die Bibel nicht dazuzählt.
Reiner Unglaub: Die Bibel, da muss
ich sagen: Als ich hierher kam, konnte ich in der Kirche ja auch nicht mehr arbeiten, denn
als Republikflüchtiger habe ich das Pfarramt verlassen, und da gab es ein Abkommen
zwischen den Ost- und Westkirchen, dass man dann erstmal gesperrt ist. Ich wollte aber gar
nicht mehr ins Pfarramt, d. h. ich habe festgestellt, dass das Pfarramt nichts für mich
ist, so wie es konzipiert ist. Die Bibel betrachte ich inzwischen als eine Bibliothek der
Weltliteratur. Aber es gibt darin sehr viele Bücher wo ich sage, ich würde sie nicht
nochmal lesen wollen. Zwar ist das Leben so: Es gibt Mord und Totschlag, aber wenn der
praktisch stilisiert und ritualisiert und in manchen Büchern ständig vorgeführt wird,
wie ein Volk das andere vernichtet, und da ist dann Gott bei dem Volk - bei den Israeliten
z. B. - da sag ich mir, das könnte doch jedes Volk machen: Das sucht sich sein Göttchen
und dann donnert der ein bisschen und dann schlägt er die anderen in die Flucht - das ist
etwas, wo ich mir sage, gut: Das ist historisch und das war so und das ist auch vielleicht
für das entsprechede Volk so gewesen, aber warum muss ich das tradieren? Warum muss ich
das heute als die Weisheit Gottes hinstellen? Das ist meine Frage, deshalb werde ich die
Bibel als Ganzes nicht mehr lesen. Aber es gibt Bücher in der Bibel, die ich besonders
mag. Das ist der Hiob, und das
sind zum Teil die Psalmen, das sind die Evangelien, weil da ist Lebendigkeit drinnen. Oder
Genesis, da sind Mythen drin, die auch heute noch was sagen können. Nicht aber die
übrigen Sachen, wo es dann so um die Nationalgeschichte eines Volkes geht, oder zum Teil
auch die neutestamentlichen Briefe, wo es dann schon wieder darum geht, die gesunde Lehre
zu verteidigen. Da bin ich auch gebrannt durch den Marxismus: Einer sagt, wo es lang geht
und wenn die anderen nicht mitmachen, dann sind sie Irrlehrer. Und das sieht man bereits
im Neuen Testament, da geht es ja schon los. Und wenn man sich die Kirchengeschichte
anguckt, dann kann einem das große Grausen kommen, was die Kirche da angestellt hat; mit
Juden und mit Anderen.
Und Ihre Gründe damals, die Bibel zu lesen,
welche waren das?
Reiner Unglaub: Zum einen, dass ich
einfach meinte, dass das Weltliteratur ist und dass die Bibel auch wieder einfach erzählt
werden muss. Und besonders habe ich auch dann mit Herrn Eckardt besprochen, dass es doch
die sehr bildkräftige Lutherübersetzung sein soll. Wenn man sich so manche neue
Übersetzung anschaut, die sind recht eindimensional in ihrer Wortwahl, so dass es eben
unter allen Umständen ankommen soll. Aber das ist ein Trugschluss - es kommt dann
trotzdem oft nicht an. Wenn es z. B. im Neuen Testament beim armen Lazarus im Bild heißt,
"er lag in Abrahams Schoß", dann kann man sich was darunter vorstellen. Er
liegt da, ist geborgen. In einer neuen Übersetzung heißt es dann, er war bei Gott - und
das sind alles abstrakte Größen, da ist kein Bild mehr, man fragt sich: Wo war er? Bei
wem war er? Wenn da aber ein Bild ist, ist es viel kräftiger - nun muss man nur noch
versuchen, die doch recht altertümliche Sprache Luthers mit der Gegenwart ins
Einvernehmen zu bekommen.
Mit der Komplettierung der Lesung der Bibel
haben Sie sich bereits einen großen Traum erfüllt. Welche Träume würden Sie sich noch
gern erfüllen?
Reiner Unglaub: Ja, wenn ich da
jetzt mal einen Rahmen setzen darf. Ich möchte nicht alt werden und mein Leben erschöpft
sich darin, Großvater zu spielen und einen Enkel auf den Knien zu haben. Das ist alles
nett, aber ich möchte etwas Neues machen. Vielleicht möchte ich ein Buch schreiben, das
weiß ich alles noch nicht. Aber was ich mir im Wesentlichen erfüllen möchte, ist große
Literatur. Ich möchte gern russische - das ist meine Lieblingsliteratur - und sowjetische
Literatur umsetzen. Da die Großen Geister: Tolstoj, Dostojewskij, Cechov - das würde mir
sehr am Herzen liegen. Da ist eben nur die Gefahr oder die Schwierigkeit, dass das eben
oft große Romane sind, die kommerziell kaum vermarktbar sind. Aber das wäre ein
wesentlicher Traum.
Dann möchte ich gerne - weiß aber
nicht, ob mir das gelingt - so etwas machen wie man es bei manchen Musikern macht: Eine
Meisterklasse; ich hätte gern eine Meisterklasse von Sprechern. Leute, die sich intensiv
bilden können, die ohnehin schon Solisten sind, zu wirklich eigenständigen Größen. Das
ist ein weiterer Traum. Da möchte ich gern mitarbeiten, aber auch das hängt natürlich
von der Finanzierung ab.
Dann möchte ich, ohne dass es jetzt fest umreißbar ist,
immer unterwegs bleiben und lernen, solange ich lebe. Neugierig bleiben, lernen, nie
stehenbleiben. Wenn ich stehenbleibe, ausbrechen. Und ich will nicht zu spät ausbrechen,
dass es dann an der falschen Stelle kommt. Ein stehendes Gewässer fängt an zu stinken.
Wenn Sie sich das frei aussuchen könnten,
welches Hörbuch würden Sie gern sprechen?
Reiner Unglaub: Da kann ich Ihnen
zwei nennen. Das eine ist "Anna Karenina" von Tolstoj, das andere "Die
Gebrüder Karamasow" von Dostojewskij.
Welche Autoren haben Sie persönlich besonders
beeindruckt, außer den schon eben benannten?
Reiner Unglaub: Ich bin ein Freund
der deutschen Romantik. Mich hat z. B. E.T.A. Hoffmann sehr beeindruckt. Aber als Autoren
würde ich wieder sagen Dostojewskij, Tolstoj und ein paar modernere, die hier im Westen
kaum bekannt sind Schukschn, Tenddrjakow, Rasputin und ähnliche. Die habe ich alle gern
gelesen - die Mentalität spricht mich halt sehr an. Aber die 11 Jahre Russisch, die ich
hatte, spielen da natürlich mit hinein.
An welcher Produktion haben Sie heute hier
gearbeitet?
Reiner Unglaub: Eine Neuproduktion
von drei biblischen Büchern. Einmal "Die Apostelgeschichte", dann "Das Buch Hiob" und "Die
Apokalypse", also "Die Offenbarung des Johannes".
Was gab es daran zu verbesssern?
Anmerkung von Herrn Eckardt: Nichts zu verbessern.
Das hatte technische Gründe. Bei der Cassette wurden damals Signaltöne eingespielt, die
bei bestimmten Cassettenrekordern, durch ständigen Vor- und Rücklauf zum klingen kommen,
so dass die Kapitelanfänge angezeigt werden. Und diese Signaltöne kann man natürlich
auf einer CD nicht brauchen. Deshalb haben wir nun einige Aufnahmen neu produziert.
Beim Evangelium gibt es aber auch noch den Grund, dass wir
diese Aufnahmen damals im Wohnhaus auf dem Dachboden gemacht haben, und doch das ein oder
andere Störgeräusch nicht zu vermeiden war. (Anm. d. Red.: Hierzu gibt es im Verlagsportrait im Hoerbuecher4um nähere
Informationen). Interessant war, dass wir bei der Apostelgeschichte 12 Sekunden schneller
gewesen sind. Daran kann man sehen, wie präzise die Arbeit ist, denn man muss bedenken,
es ist 10 Jahre her, das wir die Apostelgeschichte gemacht haben. Da habe ich mich selbst
gewundert. Bei vielen Produktionen geht es nur um Sekunden. Bei der Offenbarung waren wir
allerdings jetzt 4 Minuten schneller.
Reiner Unglaub: Aber auch durch meinen
Ärger bedingt. Ich ärgere mich über diesen Text ein wenig, habe ihn aber trotzdem
erneut gelesen, habe bloß gestern gesagt, ich möchte ihn nicht nochmal lesen, weil es
hierin zu viel Blut gibt. Das hat mich geärgert und ich musste das noch einmal alles
schön berichten, und es wird schön ausgemalt, welche Zornesscharen Gott da um sich
schmeißt und das ist heute für mich schwer. Aber es scheint mir bekommen zu sein.
(lacht)
Vielen Dank an Reiner Unglaub für das interessante
Interview und an den Verlag und Studio
für Hörbuchproduktionen für die Möglichkeit, diesen tollen Sprecher interviewen zu
können! Es hat mir großen Spaß gemacht und mir viele neue Einblicke in die Welt des
Hörbuchs gegeben, aber auch in das überaus interessante Leben einen ebenso interessanten
Menschen!
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