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Interview mit Reiner Unglaub:

 
Reiner Unglaub, 1942 in Thüringen geboren und von Geburt an blind, ist einer der besten Hörbuchsprecher, die ich kenne. Umso erstaunlicher, wenn man seinen überaus interessanten Lebenslauf betrachtet: 40 Jahre verbrachte er in der DDR, hat Sprechwissenschaft, Germanistik und Theologie studiert. War dort Sprecherzieher und im Pfarramt tätig. Als ideologischer Abweichler geriet er in politische Bedrängnisse. Später im Westen hat er bei der Deutschen Blindenhörbücherei in Marburg Sprecher ausgebildet und übernahm dann die Leitung an der Bayerischen Blindenhörbücherei in München. Doch während seiner Tätigkeit in Marburg lernte er den damaligen Leiter der Blindenhörbücherei Marburg, Hans Eckardt, kennen, mit dem er sich gemeinsam in ein völlig neues Betätigungsfeld begab: Dem Sprechen von Hörbüchern. Für beide war das ein Wendepunkt im Leben: Hans Eckardt gründete mit seiner Frau den Verlag und Studio für Hörbuchproduktionen, Reiner Unglaub konnte sich mit dem Hörbuchsprechen einen Traum erfüllen, der für einen blinden Menschen fast unerreichbar schien. (Anm. d. Redaktion: Hierzu gibt es sehr interessante Informationen im Verlagsportrait im Hoerbuecher4um) Foto von Reiner Unglaub
Reiner Unglaub beim Sprechen eines Hörbuchs. Nähere Infos gibt es auch im Verlagsportrait.
Reiner Unglaub hat dem Hoerbuecher4um im Verlag und Studio für Hörbuchproduktionen ein ausführliches Interview gegeben und beantwortet Fragen über das Hörbuchsprechen, Literatur, Verlage, sein Leben, die ehemalige DDR, Theologie... es war ein hochinteressantes Gespräch:
Für mich und viele andere ist das Hörbuch etwas recht Neues. Sie jedoch sind einer der Pioniere in diesem Bereich. Was ist für Sie das besondere am Hörbuch?

Reiner Unglaub: Da gibt es vieles. Zum einen ist es einfach so, dass das Hörbuch eine zusätzliche Dimension vermittelt von einem Buch, das sonst nur mit den Augen gelesen wird. Ich gehe z. B. davon aus, dass erzählende Literatur am besten zu ihrem Recht kommt, wenn sie laut wird. Wenn sie also zu Klang wird - ich würde sagen: Klangkörper. Das ist fast so wie eine Partitur, die Sie im geschriebenen, im gedruckten Buch vor sich liegen haben und Sie benutzen Ihr Instrument - Stimme und Sprechweise - dazu, um diese Partitur, diese Noten, die da in Werten festliegen, lebendig zu machen und aus dem Metronom einen Rhythmus werden zu lassen. Das tatsächlich Lebendige, wie es auch vielleicht, aber nicht unbedingt, vom Autor innerlich empfunden wurde. Denn Autoren haben ja oft eine ganz andere Vorstellung - ihre Werke verselbständigen sich ja auch. Aber meine Möglichkeit des Nachvollzugs, d. h., das innerlich Gesprochene durch meine Subjektivität laut werden zu lassen - das ist es.

Was bedeutet Ihnen das sprechen von Hörbüchern?

Reiner Unglaub: Freude und Spaß - aber Spaß ist zu wenig. Ich habe, wenn ich an einem Buch arbeite, wenn ich also wirklich dabei bin, immer das Gefühl, dass ich innerlich eine Stimme höre in mir, die für mich dann der Horizont ist; die spricht es optimal für meine Begriffe. Und ich versuche, indem ich das umsetze, was ich da innerlich höre, nur in Ansätzen natürlich immer, dem Horizont entgegenzutreten, d. h. ich strecke mich nach diesem Horizont aus, werde ihn aber nie erreichen. Und das ist eine ungeheure "sportliche Aktivität". Sie verlangt ungeheure Konzentration, sie verlangt alles. Wenn ich dann aber manchmal 12 Stunden lang gesprochen habe, dann kann ich - was ich sonst nicht sagen kann - behaupten, ich bin positiv erschöpft. Und am besten klappt es, wenn ich nicht mehr nachdenken muss "wie mach' ich das", sondern wenn das Buch mich trägt. Wenn dann die Sprache durch mich durch geht und ich praktisch gar nicht mehr darüber nachdenke. Natürlich muss man Vorarbeiten machen, klar, aber die dürfen nicht mehr spürbar werden. Es muss so sein, so wünsche ich es mir, als wenn ich es im Moment erzähle oder berichte, beschreibe, erkläre, dokumentiere oder kommentiere.

Sie sind künstlerischer Leiter der Bayerischen Blindenhörbücherei, Hörbuchsprecher und wirken bei Produktionen des Bayerischen Rundfunks mit. Gibt es einen dieser drei Bereiche, der Ihnen besonders am Herzen liegt?

Reiner Unglaub: Ja, ohne dem Verlag zu schmeicheln, würde ich schon sagen: Wenn ich hier gute Sachen sprechen kann - das liegt mir ganz besonders am Herzen. Natürlich auch die künstlerische Leitung insofern, als dass ich an andere weitergeben möchte - ja - erst mal hören zu lernen. Das ist das Erste, was ich immer möchte. Da kann noch so viel nicht stimmen - wie z. B. die Sprechtechnik. Wenn die Kommunikation hergestellt werden kann, achtet der Hörer gar nicht mehr auf Kleinigkeiten. Deshalb ist es für jeden Sprecher erst ungeheuer wichtig, sich selbst und andere wirklich zu hören, zuzuhören. Das möchte ich vermitteln, und darüber kommen dann auch die "Mittel". Aber die Mittel sekundär. Ich versuche, und das mache ich sehr gerne mit Sprechern gemeinsam, also wie eine Art Hebamme, rauszufinden: Wo ist deine Subjektivität, wo bist du? Wie setzt du dich in Verbindung mit diesem Text? Also nicht irgend etwas machen, weil es ein Star gemacht hat und kopieren. Das machen viele und sie müssen es vielleicht erst mal nachzuahmen, um etwas Eigenes zu finden. Aber wenn ich merke, "Ah, jetzt wird er Westphal" oder was weiß ich wer, oder er anfängt zu singen, das passiert mir selbst oft, dann hilft nur: Weg davon und suchen, wie würde ich, aber ICH, als Subjektivität - die Wahrheit ist da wirklich subjektiv - das, was mir da vorgegeben ist, in meiner Weise vermitteln? Wie der Pianist oder Violinist seine Interpretation gibt.

Wie der Pianist oder Violinist seine Interpretation von einem Werk gibt und der Zuhörer staunt: Was, das Werk hat auch diese Facette? Das gelingt nur, weil die Persönlichkeit des Interpreten eben darauf so anspricht.

Ihr Repertoire konzentriert sich sehr auf die klassische Literatur. Hat das auch etwas damit zu tun, dass Neuerscheinungen Ihnen nicht so rasch zugänglich sind, da sie erst in Braille-Schrift übertragen werden müssen?

Reiner Unglaub: Ja, ich bin natürlich zunächst mal einer, der die breit erzählende Form liebt, das ist in der älteren Literatur oft sehr stark da. Nicht ausladend, aber das Epische, das langsam durcherzählen. Was ich gerne möchte, ist auch Neues machen, ich habe auch schon einiges Neues gemacht. Mit dem Umdruck in Braille - das geht jetzt zwar auch viel schneller, weil man das über Computer machen kann - aber das kostet halt Geld. Das Umdrucken von "Die Stadt der Blinden" - es sind 3 Ordner aus dem rd. 400 Seiten umfassenden Buch entstanden - kostete schon ein paar hundert Euro. Doch ich bin nicht auf die klassische Literatur festgelegt. Aber die klassische Literatur darf nicht verloren gehen, man darf sie nicht liegen lassen, nur weil es ein dickes Buch ist oder weil manche Sätze kompliziert sind. Die durchsichtig zu machen, also alles zum Hörbild zu machen, daran liegt mir. Ich würde deshalb sagen, ich mache auch weiterhin sehr gerne klassische Sachen, denn ich bin der Meinung, da muss etwas transportiert werden, soll etwas transportiert werden, was nicht verlorengehen darf, was vor allem wieder mündlich werden müsste. Aus seiner Verschriftung, aus seiner Erstarrung gelöst werden müsste. Auf der anderen Seite möchte ich natürlich auch Neues machen und ich habe mich da auch in der Blindenhörbücherei in dieser Richtung ausprobiert, jetzt auch beim John Updike, der ist umgedruckt worden.  Ich merke eben, dass ich doch in dieser Zeit lebe und diese möchte ich auch durch meine Mittel ausdrücken.

Andere Hörbuchsprecher machen sich im Text Notizen und Anmerkungen, die ihnen die Arbeit bei der Produktion erleichtern. Ihnen ist das so nicht möglich. Wie bereiten Sie sich auf die Arbeit im Studio vor?

Reiner Unglaub: Das hängt einmal davon ab, wie mir das Buch entgegenkommt. Wenn es also etwas sperriger ist, dann bereite ich mich so vor, dass ich es einmal durchlese und dann bevor ich produziere, mir bestimmte Dinge noch einmal anschaue, aber sonst nichts weiter mache, sondern es dann darauf ankommen lasse. Natürlich, wenn es nötig ist, versuche ich auch ein bisschen literarhistorische Vorarbeit zu leisten, aber in engem Rahmen. Man muss zwar einigermaßen wissen, was wollte der Autor, was wollte er zu seiner Zeit, wenn er überhaupt was wollte und welcher Literaturströmung gehört das Buch an, welche Motive sind da, die überall wieder auftauchen, aber eigentlich soll es ja vergegenwärtigt werden. Und dann muss es alles in die Gegenwart gehoben werden. Und das muss die Hauptsache bleiben. Und wenn ich dann merke, das entspricht mir und meinen Möglichkeiten nicht, dann hoffe ich, dass ich es in der Regel auch sein lasse. Das ist nicht immer passiert, aber ich denke meistens, ja.

Es kommt hinzu, dass ich vom Studium her ein sehr intensives Gedächtnis entwickeln musste. Wir hatten damals nicht die Medien, die man heute hat, wie z. B. Computer. Wenn ich mir etwas vorlesen lassen musste, musste ich mitstenografieren und musste halt wissen - gewusst wo - wenn etwas zu zitieren war. Ich musste also Dinge sehr genau behalten. Und dieses Gedächtnis kommt mir natürlich auch beim Buchlesen zugute. Manchmal mache ich es aber auch so wie bei "Die Stadt der Blinden" von Saramago. Das war ein ziemlich schwieriges Unterfangen; da hat mir Herr Eckardt sehr viel geholfen. Da wechseln z. B. innerhalb langer Sätze - er hat oft lange Sätze - die Dialogpartner, ohne dass da z. B. Gänsefüßchen stehen. Sondern da ist ein Komma und nach dem Komma spricht plötzlich der oder die Andere und für die Sehenden ist das dadurch gekennzeichnet, dass nach dem Komma großgeschrieben wird. Für mich aber nicht. Da bin ich oft ins Dunkel gegangen, wirklich wie ein Blinder. Manchmal waren da vier oder fünf Wechsel im Dialog - die haben wir dann aufgeschlüsselt, wer das jetzt spricht. Aber im Allgemeinen ging es und da vertraue ich einfach darauf, dass das irgendwie wird. Also, das Vertrauen ist, glaube ich dann doch, wenn es auch am Ende steht, das Wichtigste.

Ihre Hörbuchlesungen außerhalb der Produktionen für die Blindenhörbücherei haben Sie bis auf wenige Ausnahmen, die Sie für den Rundfunk gemacht haben, alle beim Verlag und Studio für Hörbuchproduktionen gemacht. Warum ist das so und was ist für Sie an den Produktionen dieses Verlags das Besondere?

Reiner Unglaub: Also, das Erste war, dass ich durch Herrn Eckardt (Anm. d. Red.: Damaliger Leiter der Deutschen Blindenhörbücherei), sagen wir mal, entdeckt worden bin. Als ich in Marburg in der Bücherei Sprecherziehung machte, da habe ich dann auch ab und zu im Studio gesessen. Ich habe schon immer gern vorgelesen, habe aber nie gedacht, dass ich einmal Sprecher werden könnte. So ein Traum war schon da, aber der war eher wie eine Ahnung. Ich habe dann auch manchmal etwas probiert im Studio und dann kam Herr Eckardt, 1987 war das, auf mich zu und hat eben gefragt: Er stellt sich vor, dass er Verlagsarbeit mit Hörbüchern oder mit der Produktion von Hörbüchern machen möchte und da ich ja nun auch Theologie studiert hatte wäre es doch eigentlich ganz gut - er wusste nur, dass ich einigermaßen lesen konnte - wenn ich das neue Testament sprechen würde und ob ich das machen wolle. Auf diese Weise bin ich überhaupt in diesen "Beruf" hineingekommen. Es war praktisch eine Berufung durch den Leiter der Blindenhörbücherei - und das ist das Erste, das habe ich nicht vergessen und werde es auch nie vergessen.
(Anm. d. Red.: Näheres hierzu auch im Verlagsportrait im Hoerbuecher4um)

Das Zweite ist, dass wir, wenn ich hier spreche, sehr intensiv zusammen arbeiten. Wenn ich vom Weg abkomme, dann kann mir der Regisseur, also wieder Herr Eckardt, klar und deutlich, ohne Aggressionen, so dass ich auch bereit bin zu verstehen, sagen: "Nee also, was machen Sie denn hier", "warum machen Sie denn das" und "stellen Sie sich mal vor Sie könnten" oder "wäre es auch so möglich" oder "Sie müssen bedenken, dass..." - bei jedem Buch haben wir eine Strecke, wo es durch eine Enge geht, so einen engen Kanal, wie so ein Geburtskanal und da müssen wir durch und er führt mich da. Wenn ich da durch bin, dann muss er, glaube ich, nicht mehr sehr viel tun, dann geht es nur um die Schneiderei in der Regel, aber dann läuft es auch. Dann kann ich frei laufen und fühle mich dabei wohl und es ist halt auch ein sehr persönlich enges Verhältnis, was dadurch entstanden ist, das trägt mich.

Und dazu kommt noch das Dritte: Der Verlag macht in den meisten Fällen Hörbücher als Ganzes. Wenn ich etwas lese, dann meistens ungekürzt. Und das gefällt mir, denn viele Bücher werden einfach nur auf Plot gekürzt, da bleibt nicht mehr viel übrig, die Handlung zwar noch, aber der Gehalt kommt dann oft nicht mehr rüber. Ich habe z. B. die "Deutschstunde" gelesen von Siegfried Lenz - die ist als ungekürzte Lesung gemacht worden und sowas liegt mir sehr, gefällt mir. Ich fühle mich dann einfach wohl, so kann man das vielleicht zusammenfassen.

Also, meine Faszination für diesen Verlag begründe ich auch in der absolut stimmigen Gesamtheit des Produktes. So steht der Text mit dem Sprecher in Einklang, aber auch die Aufmachung des Produkts ist etwas ganz Besonderes. So auch bei den Lesungen aus der Bibel; die Cassetten sind umfasst von einer stabilen Box und in Leinen eingebunden, was sie aus anderen Produktionen hervorhebt. Wie wichtig ist Ihnen die an das Produkt angepasste Gestaltung?

Reiner Unglaub: Ist mir sehr wichtig. Schon allein wenn ich es anfasse. Sie wissen ja - die Verpackungsindustrie weiß das ja eigentlich auch - dass, ein Produkt besser verkauft wird, wenn es sich gut anfasst. Wenn man es in die Hand nimmt und wiegt -, das ist doch was. Wenn Sie ein gutes Buch haben und das haben Sie in der Hand, dann möchten Sie es gleich lesen. Es muss den Appetit anregen. Das ist wie essen.

Das Auge isst auch mit.

Reiner Unglaub: Ja sicher - und die Hand. Wenn ein Buch schon so unsinnlich verkauft wird, dann ist erst einmal eine Hürde da.

In der ehemaligen DDR haben Sie ein Studium der Sprechwissenschaft und Germanistik gemacht sowie Sprecher ausgebildet beim Berliner Rundfunk. Haben Sie aus dieser Zeit Erfahrungen, die durch die Wiedervereinigung für viele Menschen verloren sind?

Reiner Unglaub: Da sind eigentlich ganze Romane zu schreiben. Vieles davon lässt sich natürlich soziologisch oder ähnlich erklären, warum es so war. Ich habe 40 Jahre in der DDR verbracht und das ist natürlich ein Großteil meines Lebens bis jetzt. Ich will kurz zusammenfassen, was mir da so einfällt:

Zunächst mal einen Eindruck, den ich hatte: Als ich kein Geheimnisträger mehr war, konnte ich öfter zu Besuch in die BRD fahren. Und der Eindruck war natürlich überwältigend. Wenn man die Mangelwirtschaft in der DDR kannte - deren positive Seite ich später noch kurz streifen will - und dann hierher kam, das war schon ein Unterschied. Schon auf dem Bahnhof in Hamburg die Gerüche, dieses Lockere, man merkte keine Präsenz von Polizei oder ähnlichem, und es war irgendwie sehr frei: Die Leute redeten frei und ich hatte das Gefühl "jetzt bist du wirklich auf einem anderen Stern". Aber, als ich dann hierher kam, nicht nur zu Besuch, kam mir folgender Vergleich: In der DDR ist es so, da kaufst du beim Bäcker Brötchen, die sind frisch und einigermaßen knusprig. Innendrin ist was, du beißt rein, es riecht zwar nicht besonders intensiv, aber du beißt rein und hast Inhalt. Hier gehst du zum Bäcker und das duftet und duftet. Du beißt in die Semmel rein und da ist Luft drin. Das ist ein Unterschied, den können sie jetzt als Symbol ausbauen, so viel sie mögen. Die Botschaft wird sehr oft hier zur Verpackung, zur bloßen Verpackung, die Verpackung ist die Botschaft.

Wir haben z. B. weniger geistige Nahrung gehabt in der DDR. Daher waren wir gezwungen, alles was wir in die Hand kriegten aus dem Westen oder wo auch immer her zu lesen, intensiv zu lesen. Und das mussten wir weitergeben. Oftmals kamen wir an die Bücher oder die Schallplatten nicht ran und waren also gehalten, mit Hunger zu essen. Der geistige Hunger war äußerst groß. In dieser kaputten Situation, wo es eigentlich nur ideologische Festlegungen gab und wo man in der Öffentlichkeit ohnehin nicht frei reden konnte, waren wir gezwungen, uns innerlich einen Brunnen oder eine Quelle zu schaffen, aus der wir trinken konnten. So sind ja beispielsweise auch sehr viele Bücher , die einer aus dem Westen hatte, von Hand zu Hand gegangen und teilweise sogar abgeschrieben worden, weil sie eben ungeheuer wichtig wurden. Also so nach der Analogie "der Mensch lebt nicht vom Brot allein". Denn zu Essen und Trinken hatten wir ja eigentlich genug. Es kann ja keiner sagen, dass wir Not gelitten hätten, wir hatten bloß bestimmte Luxusgüter nicht.

Hier ist es mir nach einer Weile, als ich dann auch Geld verdiente, so gegangen, dass mich die Bücher gar nicht mehr interessierten. Die liegen überall herum, man kann sie jederzeit greifen und Sie haben so viele Möglichkeiten. Vor lauter Möglichkeiten sagen Sie "och, das mache ich jetzt überhaupt nicht, das interessiert mich jetzt nicht". Das ist ein Unterschied, den ich doch sehr deutlich gemerkt habe: Der Hunger existiert nicht mehr oder er geht in entlegene Gebiete, bis hin zu Gurus oder was weiß ich wohin. Dass man sagt, ich habe irgendeinen Hunger und den muss ein Guru stillen.

Trotz des Überangebots hier, ist das etwas, was mir aus der DDR geblieben ist: Ob das nun Nahrungsmittel sind, wie z. B. Erdbeeren, die Sie hier das ganze Jahr bekommen, obwohl das nicht sein muss. Wir hatten das eben im späten Frühjahr und im Sommer und das reicht auch. Ebenso bezieht sich dieses Beispiel auch auf geistige Güter.

Das Zweite: In der DDR mussten wir immer abklopfen, wenn wir mit jemandem sprachen, zwischen den Zeilen: "Kann ich hier mehr sagen? Kann ich mich hier offen aussprechen?" Und da es keinen öffentlichen Diskurs gab - den gibt es leider hier jetzt auch kaum noch, habe ich den Eindruck - mussten wir unseren eigenen Diskurs finden. Wir wollten uns ja austauschen. Aus dem Westen hat uns mal ein Pfarrer besucht, der sagte: "Bei Euch ist es ja unwahrscheinlich. Wir brauchen immer drei Stunden, müssen Smalltalk machen, bis wir uns ein bisschen aneinander herangefühlt haben, dann KANN es passieren, dass wir die Masken etwas fallen lassen. Bei Euch geht es nach fünf Minuten um die Sinnfrage oder um die Grundfragen des Lebens."

Das war etwas, was mir natürlich hier sehr gefehlt hat. Man brauchte sehr lange, um mit Menschen ins Gespräch zu kommen und musste sehr viel lauwarme Luft hin- und herwenden, bis die normalen Floskeln abgetastet waren und man dann vielleicht etwas tiefer kam. Ich bin jemand, der sehr schnell ins Tiefe oder Weite gehen möchte.  Und wenn ich dann so viel reden muss, um überhaupt ins Gespräch zu kommen, über das, was mich fasziniert oder interessiert, dann kühlt es ab oder gibt gar nichts mehr. D. h. also, die Gesprächskultur fand ich besser, immer vorausgesetzt, unter denen, die sich wirklich was zu sagen hatten. Das waren nicht viele in der DDR, vergleichsweise mit der Masse hier. Das hat jetzt keine Wertung, wenn ich das so sage, das ist einfach so. Die Masse der Leute war eben einfach nur aufs Materielle orientiert, war auch konsumorientiert wie hier, zusätzlich durchs West-Fernsehen, wenn sie dann ständig sahen, was es da alles gibt. Manche haben sich ja dann nach der Wende völlig überkauft, nur weil sie nachholen wollten. Das ist die zweite Sache, die bei uns anders war. Als ich dann hierher kam, fühlte ich mich ziemlich erkältet.

Haben Sie durch den christlichen Glauben mit der SED Probleme bekommen?

Reiner Unglaub: Ja, auch. Ich habe ja auch Sprecher unterrichtet, ausgebildet und weitergebildet und habe natürlich mit vielen Marxisten Kontakt gehabt, die nicht unbedingt parteigebunden waren. Da habe ich tolle Leute kennengelernt und habe mit denen natürlich frei gesprochen, kindlich wie ich war. Gesagt, was mir nicht gefällt und dass es dem Sozialismus nur nützlich sein könne, wenn Kritik möglich wäre, usw.. Und einer dieser Leute hat mich mehrmals verpfiffen, das habe ich aber erst später mitbekommen.

Dazu kam, es gab damals eine Solidaritätsmark (jeder gibt eine bestimmte Summe vom Verdienst ab, und das sollte für Vietnam verwendet werden) - es war die Zeit des Vietnamkriegs. Ich war natürlich auch gegen den Krieg in Vietnam, das ist klar, aber ich habe immer gefragt, aus meiner Situation, meinem Verständnis heraus: Ich möchte genau wissen, wie dieses Geld verwendet wird. Wird es für Waffen verwendet, für Ausbildung von Soldaten? Und darauf hat man mir geantwortet: "Sie zweifeln wohl an der Friedenspolitik der DDR?!" Und das ist mehrmals aufgetreten. Ich bin der einzige in der Abteilung gewesen, der die Solimark nicht bezahlt hat. Ich habe dann zwar gesagt, dass ich für Brot für die Welt und ähnliches gebe, da kommt es auch armen Ländern zugute, wie z. B. Mosambique, aber das haben sie mir nicht abgenommen und da haben sie mir dann eines Tages gesagt: "Sie sind Ihres Postens enthoben und Sie dürfen andere Personen nicht mehr lehren, weil sie nur fachlich lehren und Sie nicht im Sinne des Marxismus-Leninismus unterrichten."

D. h. also, mein Engagement in Kirchengemeinden war der damals notwendige Hintergrund. Dadurch hatte ich natürlich auch ein bisschen Unterstützung, weil kirchliche Stellen die einzigen immerhin relativ unabhängigigen Stellen vom Staat waren, so dass man sich wenigstens dahinterstellen und sagen konnte, da hat man noch einen Rückhalt. Also das hat schon eine Rolle gespielt. Wenn ich den Rückhalt nicht gehabt hätte, weiß ich nicht. Aber ich bin sowieso jemand, der, wenn er innerlich nicht mehr mitkann, irgendwann ausbricht. Der dann nicht mehr mitmacht und statt rumzulügen, das Maul aufreißt, um das zu sagen, was sie nicht gern hören wollen.

Insofern gab es Probleme durch meine, ja die Marxisten hätten gesagt, durch meine ideologische Einstellung. Die Ideologie war der christliche Glaube.

Von Ihren Hörbuch-Produktionen, die Sie gesprochen haben, an welcher liegt Ihnen da am meisten?

Reiner Unglaub: Das ist eine gute Frage. Es ist sehr schwierig, sie zu beantworten. In der Regel ist das Buch mir am wichtigsten, was ich gerade mache. Aber es gibt hier im Verlag z. B. die "Deutschstunde", die habe ich sehr gerne gemacht und das, was ich von Stefan Zweig gemacht habe, da gibt es ja einige Sachen, da möchte ich auch gerne immer wieder was tun. Ja, das sind die - wie sagt man heute - Highlights.

Überraschend, dass die Bibel nicht dazuzählt.

Reiner Unglaub: Die Bibel, da muss ich sagen: Als ich hierher kam, konnte ich in der Kirche ja auch nicht mehr arbeiten, denn als Republikflüchtiger habe ich das Pfarramt verlassen, und da gab es ein Abkommen zwischen den Ost- und Westkirchen, dass man dann erstmal gesperrt ist. Ich wollte aber gar nicht mehr ins Pfarramt, d. h. ich habe festgestellt, dass das Pfarramt nichts für mich ist, so wie es konzipiert ist. Die Bibel betrachte ich inzwischen als eine Bibliothek der Weltliteratur. Aber es gibt darin sehr viele Bücher wo ich sage, ich würde sie nicht nochmal lesen wollen. Zwar ist das Leben so: Es gibt Mord und Totschlag, aber wenn der praktisch stilisiert und ritualisiert und in manchen Büchern ständig vorgeführt wird, wie ein Volk das andere vernichtet, und da ist dann Gott bei dem Volk - bei den Israeliten z. B. - da sag ich mir, das könnte doch jedes Volk machen: Das sucht sich sein Göttchen und dann donnert der ein bisschen und dann schlägt er die anderen in die Flucht - das ist etwas, wo ich mir sage, gut: Das ist historisch und das war so und das ist auch vielleicht für das entsprechede Volk so gewesen, aber warum muss ich das tradieren? Warum muss ich das heute als die Weisheit Gottes hinstellen? Das ist meine Frage, deshalb werde ich die Bibel als Ganzes nicht mehr lesen. Aber es gibt Bücher in der Bibel, die ich besonders mag. Das ist der Hiob, und das sind zum Teil die Psalmen, das sind die Evangelien, weil da ist Lebendigkeit drinnen. Oder Genesis, da sind Mythen drin, die auch heute noch was sagen können. Nicht aber die übrigen Sachen, wo es dann so um die Nationalgeschichte eines Volkes geht, oder zum Teil auch die neutestamentlichen Briefe, wo es dann schon wieder darum geht, die gesunde Lehre zu verteidigen. Da bin ich auch gebrannt durch den Marxismus: Einer sagt, wo es lang geht und wenn die anderen nicht mitmachen, dann sind sie Irrlehrer. Und das sieht man bereits im Neuen Testament, da geht es ja schon los. Und wenn man sich die Kirchengeschichte anguckt, dann kann einem das große Grausen kommen, was die Kirche da angestellt hat; mit Juden und mit Anderen.

Und Ihre Gründe damals, die Bibel zu lesen, welche waren das?

Reiner Unglaub: Zum einen, dass ich einfach meinte, dass das Weltliteratur ist und dass die Bibel auch wieder einfach erzählt werden muss. Und besonders habe ich auch dann mit Herrn Eckardt besprochen, dass es doch die sehr bildkräftige Lutherübersetzung sein soll. Wenn man sich so manche neue Übersetzung anschaut, die sind recht eindimensional in ihrer Wortwahl, so dass es eben unter allen Umständen ankommen soll. Aber das ist ein Trugschluss - es kommt dann trotzdem oft nicht an. Wenn es z. B. im Neuen Testament beim armen Lazarus im Bild heißt, "er lag in Abrahams Schoß", dann kann man sich was darunter vorstellen. Er liegt da, ist geborgen. In einer neuen Übersetzung heißt es dann, er war bei Gott - und das sind alles abstrakte Größen, da ist kein Bild mehr, man fragt sich: Wo war er? Bei wem war er? Wenn da aber ein Bild ist, ist es viel kräftiger - nun muss man nur noch versuchen, die doch recht altertümliche Sprache Luthers mit der Gegenwart ins Einvernehmen zu bekommen.

Mit der Komplettierung der Lesung der Bibel haben Sie sich bereits einen großen Traum erfüllt. Welche Träume würden Sie sich noch gern erfüllen?

Reiner Unglaub: Ja, wenn ich da jetzt mal einen Rahmen setzen darf. Ich möchte nicht alt werden und mein Leben erschöpft sich darin, Großvater zu spielen und einen Enkel auf den Knien zu haben. Das ist alles nett, aber ich möchte etwas Neues machen. Vielleicht möchte ich ein Buch schreiben, das weiß ich alles noch nicht. Aber was ich mir im Wesentlichen erfüllen möchte, ist große Literatur. Ich möchte gern russische - das ist meine Lieblingsliteratur - und sowjetische Literatur umsetzen. Da die Großen Geister: Tolstoj, Dostojewskij, Cechov - das würde mir sehr am Herzen liegen. Da ist eben nur die Gefahr oder die Schwierigkeit, dass das eben oft große Romane sind, die kommerziell kaum vermarktbar sind. Aber das wäre ein wesentlicher Traum.

Dann möchte ich gerne - weiß aber nicht, ob mir das gelingt - so etwas machen wie man es bei manchen Musikern macht: Eine Meisterklasse; ich hätte gern eine Meisterklasse von Sprechern. Leute, die sich intensiv bilden können, die ohnehin schon Solisten sind, zu wirklich eigenständigen Größen. Das ist ein weiterer Traum. Da möchte ich gern mitarbeiten, aber auch das hängt natürlich von der Finanzierung ab.

Dann möchte ich, ohne dass es jetzt fest umreißbar ist, immer unterwegs bleiben und lernen, solange ich lebe. Neugierig bleiben, lernen, nie stehenbleiben. Wenn ich stehenbleibe, ausbrechen. Und ich will nicht zu spät ausbrechen, dass es dann an der falschen Stelle kommt. Ein stehendes Gewässer fängt an zu stinken.

Wenn Sie sich das frei aussuchen könnten, welches Hörbuch würden Sie gern sprechen?

Reiner Unglaub: Da kann ich Ihnen zwei nennen. Das eine ist "Anna Karenina" von Tolstoj, das andere "Die Gebrüder Karamasow" von Dostojewskij.

Welche Autoren haben Sie persönlich besonders beeindruckt, außer den schon eben benannten?

Reiner Unglaub: Ich bin ein Freund der deutschen Romantik. Mich hat z. B. E.T.A. Hoffmann sehr beeindruckt. Aber als Autoren würde ich wieder sagen Dostojewskij, Tolstoj und ein paar modernere, die hier im Westen kaum bekannt sind Schukschn, Tenddrjakow, Rasputin und ähnliche. Die habe ich alle gern gelesen - die Mentalität spricht mich halt sehr an. Aber die 11 Jahre Russisch, die ich hatte, spielen da natürlich mit hinein.

An welcher Produktion haben Sie heute hier gearbeitet?

Reiner Unglaub: Eine Neuproduktion von drei biblischen Büchern. Einmal "Die Apostelgeschichte", dann "Das Buch Hiob" und "Die Apokalypse", also "Die Offenbarung des Johannes".

Was gab es daran zu verbesssern?

Anmerkung von Herrn Eckardt: Nichts zu verbessern. Das hatte technische Gründe. Bei der Cassette wurden damals Signaltöne eingespielt, die bei bestimmten Cassettenrekordern, durch ständigen Vor- und Rücklauf zum klingen kommen, so dass die Kapitelanfänge angezeigt werden. Und diese Signaltöne kann man natürlich auf einer CD nicht brauchen. Deshalb haben wir nun einige Aufnahmen neu produziert.

Beim Evangelium gibt es aber auch noch den Grund, dass wir diese Aufnahmen damals im Wohnhaus auf dem Dachboden gemacht haben, und doch das ein oder andere Störgeräusch nicht zu vermeiden war. (Anm. d. Red.: Hierzu gibt es im Verlagsportrait im Hoerbuecher4um nähere Informationen). Interessant war, dass wir bei der Apostelgeschichte 12 Sekunden schneller gewesen sind. Daran kann man sehen, wie präzise die Arbeit ist, denn man muss bedenken, es ist 10 Jahre her, das wir die Apostelgeschichte gemacht haben. Da habe ich mich selbst gewundert. Bei vielen Produktionen geht es nur um Sekunden. Bei der Offenbarung waren wir allerdings jetzt 4 Minuten schneller.

Reiner Unglaub: Aber auch durch meinen Ärger bedingt. Ich ärgere mich über diesen Text ein wenig, habe ihn aber trotzdem erneut gelesen, habe bloß gestern gesagt, ich möchte ihn nicht nochmal lesen, weil es hierin zu viel Blut gibt. Das hat mich geärgert und ich musste das noch einmal alles schön berichten, und es wird schön ausgemalt, welche Zornesscharen Gott da um sich schmeißt und das ist heute für mich schwer. Aber es scheint mir bekommen zu sein. (lacht)

Vielen Dank an Reiner Unglaub für das interessante Interview und an den Verlag und Studio für Hörbuchproduktionen für die Möglichkeit, diesen tollen Sprecher interviewen zu können! Es hat mir großen Spaß gemacht und mir viele neue Einblicke in die Welt des Hörbuchs gegeben, aber auch in das überaus interessante Leben einen ebenso interessanten Menschen!

Rezensionen zu Hörbüchern im Hoerbuecher4um mit Reiner Unglaub als Sprecher:

Button HIER klicken gibt es im eine Rezension zum Hörbuch "Schachnovelle" von Stefan Zweig!
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gibt es im eine Rezension zum Hörbuch "Michael Kohlhaas" von Heinrich von Kleist!

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© 2002 Hoerbuecher4um, erstellt am 14.10.2002, letzte Änderung am 28.01.2004, Layout by abrakanfill.gif (807 Byte)